Im Gespräch
Ungarische Rhapsodie
26. 1. 2017 / Von Klaus Zeyringer
Ein literarischer und ein politischer Blick auf das Nachbarland in Moll-Tönen: Zsuzsa Bánk und Paul Lendvai bei "Transflair"

Welch großartige Sprachkunst aus Ungarn kommt und wie problematisch die aktuellen politischen Zustände im Nachbarland sind, welche Hintergründe dazu geführt haben und wie literarische Werke dazu stehen - das bewirkte an diesem Donnerstagabend im vollen Saal des ULNÖ merkbar gespanntes Interesse.

Die wesentlichen historischen Eckdaten der Befindlichkeit einer "ungarischen Seele" führt Paul Lendvai in seinem jüngsten Buch an: Seit der "Landnahme" um 896 seien "Angstkomplexe um den langsamen Tod einer kleinen Nation und die Einsamkeit mit einer einzigartigen Sprache im Karpatenbecken bestimmende Faktoren" geblieben. "Die Wechselwirkung zwischen Öffnung und Abkapselung, zwischen Einsamkeitsgefühl und Sendungsbewusstsein, zwischen Todesangst und Aufbegehren hatte stets einen prägenden Einfluss in den sich wandelnden Zeiten der Kultur und Geschichte Ungarns".

Lebenspessimismus

Das Gefühl des Ausgeliefertseins äußere sich deutlich in den Worten des Nationaldichters Sándor Petöfi: "Wir sind das verlassenste von allen Völkern der Erde." Ein Lebenspessimismus habe fast alle Generationen der Magyaren erfüllt. "Die Verwüstungen des vom Westen wiederholt im Stich gelassenen Landes während des Mongolensturms 1241, die Katastrophe von Mohács 1526 mit der daraus folgenden, anderthalb Jahrhunderte andauernden Türkenbesetzung, die Niederwerfung des Freiheitskampfes 1848/49 durch die vereinten Streitkräfte der Habsburger und russischen Zaren, die Zerstörung des historischen Ungarn durch das Diktat von Trianon 1920, die vier Jahrzehnte des Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg samt der blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes von 1956 waren Katastrophen, die das Bewusstsein der Verlassenheit immer wieder verschärften."

Diese Vorgeschichten fasst Paul Lendvai in seinem jüngsten Buch Orbáns Ungarn zusammen, dem er eine "beispiellose Machtkonzentration hinter einem scheindemokratischen Nebelvorhang" attestiert. "Ja, es gibt ein winziges Fenster, durch das man nach Ungarn schauen kann", sagte Zsuzsa Bánk im Interview.

Und so fanden sich auf dem "Transflair"-Podium zwei Sichtweisen: der eine Blick durch ein winziges Fenster in einer großen Literatur, der andere durch eine riesige Panoramascheibe der politischen Analyse. Beide Standpunkte haben mit 1956 zu tun, beide zeigen, dass Ungarn nicht nur Orbánland ist, sondern auch das Land der Sprachkunst von Imre Kertész, Péter Nádas und vielen anderen.

Aus österreichischer Perspektive ist es ebenso nah wie fern. Auch dieses Bild ist historisch und literarisch beeinflusst, von Kossuth und Lenau, von Nagy und Nádas. Wie es sich für einen renommierten Beobachter ausnimmt, der es von innen und von außen kennt, wie im Klang und in den Geschichten einer Autorin, deren ungarische Eltern 1956 geflüchtet sind, war bei "Transflair" zu erleben.

Paul Lendvai ist in Budapest geboren, war dort Journalist, wurde 1953 verhaftet und mit Berufsverbot belegt. 1956 floh er nach Wien, wurde zu einem der besten Kommentatoren der Ereignisse im Ostblock und mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik geehrt. Er schrieb für die Neue Zürcher Zeitung, war Auslandskorrespondent der Financial Times, im ORF Leiter der Osteuropa-Redaktion, Intendant von Radio Österreich International, verfasst nach wie vor Kolumnen für den Standard, gibt die Europäische Rundschau heraus, und und und. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Bücher, 2006 Der Ungarnaufstand, 2009 Als der Eiserne Vorhang fiel. Für Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch (2010) erhielt er Morddrohungen, eine Lesung musste er deswegen absagen.

Letztes Jahr erschien Orbáns Ungarn, eine äußerst erhellende Darstellung, die die Zustände in unserem Nachbarland deutlich vor Augen führt - aus der Sicht eines völlig unabhängigen, "von keinen ungarischen oder ausländischen Interessen beeinflussten österreichischen Autors". Hier liest man eindringlich und erhellend vom "Systemwechsel der Halbheiten" ab 1989, von der Einzigartigkeit der politischen Landschaft, die den Aufstieg Viktor Orbáns ermöglichte, von rapidem Umschwüngen und von einer rechtspopulistischen Taktik, von empörender Demokratiefeindlichkeit und von Korruption.

Zsuzsa Bánk lebt in Deutschland, schreibt auf Deutsch und wird dennoch in Rezensionen nicht selten als "ungarische Autorin" bezeichnet. Sie ist in Frankfurt am Main geboren, wo sie heute lebt, und ist zweisprachig aufgewachsen. Ihr erster Roman Der Schwimmer, für den sie den Aspekte-Preis erhielt, erzählt von 1956. Eine Frau flüchtet in den Westen, ihr Mann zieht mit den zwei Kindern durchs Land, nur am Wasser fühlen sie eine Art Glück. Die Geschichte ist von mehreren Stimmen erzählt, im Moll-Sound einer Rhapsodie geht es, wie meist bei Bánk, um Verlusterfahrungen. "Ein Buch, das uns das Herz zerreißt", meinte Péter Nádas.

Danach legte Bánk den Band Heißester Sommer vor, dessen Erzählungen ebenfalls um ein Zu-Ende-Gehen und um Verlust kreisen. Der darauf folgende Roman Die hellen Tage schildert eine Dreiecksgeschichte von Kindheit an: die Ich-Erzählerin Seri, ihre Freundin Aja aus einer ungarischen Artistenfamilie und Karl. Die Väter sind abwesend, mit dem Erwachsenwerden kommt der Verrat (ans Licht). Ajas Eltern sind 1956 geflüchtet, da "schlüpften sie durch die schmale Zeitschleuse, die sich kurz geöffnet hatte". Und der Roman endet mit einem anderen gewichtigen Datum, zur Zeit des politischen Umbruchs von 1989 - damit setzt wiederum Paul Lendvais Buch Mein verspieltes Land ein, auch in Orbáns Ungarn spielt dies eine wesentliche Rolle. "Ein Begräbnis mit Symbolkraft" lautet hier der entsprechende Untertitel.

Demnächst erscheint das neue Werk von Zsuzsa Bánk Schlafen werden wir später, ein E-Mail-Roman. Über mehr als drei Jahre schreiben sich zwei Seelenfreundinnen, die eine ist Schriftstellerin in Frankfurt, die andere Lehrerin im Schwarzwald. Beide, Márta Horváth und Johanna Messner, müssen mit Verlusten und Abschieden fertig werden. Die ungarischen Eltern von Márta sind 1956 geflüchtet, in jeden Abschied legen sie den letzten hinein, weil 1956 "immer mitgeweint wird".

Was bedeutet für Paul Lendvai, was für Zsusza Bánk und ihre literarischen Figuren dieses 1956 heute, mehr als sechzig Jahre später? Für sie, sagte Zsuzsa Bánk, sei es ein Datum, das sie sich nicht aneignen könne, ohne vermessen zu sein, "es liegt in meiner Vorvergangenheit, ich bin 1965 geboren". In ihrer Familie sei es jedenfalls eine Zäsur, "ein Punkt Null, an dem sich alles gedreht und gewendet und an einem anderen Ort neu begonnen hat". Deswegen greife sie in ihrem Werk immer wieder darauf zurück, ohne dass dies im Zentrum stehe. Sie habe sich allerdings an solchen Stellen oft gefragt, für wie viele Leser das Datum noch etwas bedeute. Sie habe mit ihrem Lektor in Deutschland darüber gesprochen, wie sie dieses 1956 markieren könne, da ja nicht jeder wisse, was damals in Ungarn geschehen ist. In Österreich hätte man sich das wohl nicht fragen müssen.
Eines der vielen ungarischen Paradoxe sei es, dass man im Ausland die Bedeutung dieses völlig unvorbereiteten, ehrlichen Aufstandes besser begreife als heute in Ungarn selbst.
Für Paul Lendvai war es die wichtigste und beste Entscheidung in seinem Leben, dass er damals Ungarn verlassen und in Österreich um politisches Asyl ersucht hat - "von außen gesehen ein Wahnsinn: ohne Verwandte, ohne Sprache, ohne Beruf, denn was ist schon ein Journalist". Eines der vielen ungarischen Paradoxe sei es, dass man im Ausland die Bedeutung dieses völlig unvorbereiteten, ehrlichen Aufstandes besser begreife als heute in Ungarn selbst. Bei der Nationswerdung Österreichs sei es eine Art der Danksagung nach dem Staatsvertrag gewesen, dass man hier alle diese Flüchtlinge aufgenommen habe: "eine zutiefst humane und politisch riskante Entscheidung, das wissen wir heute", sagte Lendvai.

Ob der magyarische "Lebenspessimismus" tatsächlich so stark sei? Alles in Moll? In Zsuzsa Bánks neuen Roman Schlafen werden wir später spricht eine Figur von einem "störrischen Ungarn-Gen". Nein, das gebe es nicht wirklich, betonte die Autorin. Die Schriftstellerin Márta sage das, weil sich bei all ihren Lesungen und Auftritten ein Ungarn-Grüppchen an sie anhängt. Das nervt Márta, trotzdem möchte sie verbindlich bleiben, ärgert sich aber über sich selbst und beschreibt das als ihr Ungarn-Gen, immer freundlich sein zu wollen. Na ja, erwiderte Paul Lendvai, immerhin habe sowohl die Figur als auch Zsuzsa Bánk die Akzente behalten - ein ungarischer Autor habe erklärt: "Das Erste, das man im Ausland verliert, sind die Akzente; das Letzte, das man nie verliert, ist der Akzent, vor allem in der deutschen Sprache." Ja, der Akzent als Zeichen, sagte Bánk: Sie habe Die hellen Tage zunächst mit einer deutschen Mutter-Figur begonnen, sich dann jedoch entschlossen, daraus mit einem Akzent im Namen eine ungarische Figur zu machen.

Gefühl des Verlusts

Ein Ungarn-Gen mag es wohl nicht sein, aber bei der Lektüre der Bücher der beiden "Transflair"-Gäste verstärkt sich der Eindruck, dass das Gefühl des Verlusts zur ungarischen Identität gehört. Sie, sagte Zsuzsa Bánk, interessiere nicht so sehr der Verlust, sondern eher die Katastrophe: "Wie lebt es sich nach der Katastrophe, mit dem Trauma?" Wie lebt es sich nach 1956, ist das Thema in Der Schwimmer - bei ihren Sommeraufenthalten in Ungarn, sagte Bánk, habe sie den Eindruck gehabt, dort seien alle in Sirup gefallen und bewegten sich nicht. In Schlafen werden wir später sind es zwei gegenlaufende Bewegungen: Bei der einen Brieffreundin liegt die Katastrophe schon hinter ihr, bei der anderen ist sie auf der ersten Seite angekündigt, geschieht aber erst am Ende.

Eindringlich und in einer zunehmenden Moll-Stimmung las Zsuzsa Bánk aus Die hellen Tage. Der Roman erzählt von drei Familien, die jeweils durch ein traumatisches Ereignis geprägt sind, in jeder gibt es eine Leerstelle zu beklagen: der früh verstorbene Vater, der offenbar einem Verbrechen zum Opfer gefallene Bruder, und in der ungarischen Familie der Vater, der nur einmal im Jahr zu Besuch kommt.

In Zukunft rechts der Mitte

Ebenso eindringlich sprach Paul Lendvai und gab eine konzise Zusammenfassung von Orbans Ungarn. Wie im Buch begann er, auch in einem Moll-Ton, mit Orbans erstem spektakulären Auftritt 1989 beim nachträglichen Staatsbegräbnis der exekutierten Männer des Aufstandes von 1956. Er habe versucht, sagte Lendvai, "den ganz und gar ungewöhnlichen Lebenslauf eines Politikers" zu schildern, "die Rolle der Persönlichkeit zu zeigen" und den Aufstieg einer Jugendpartei, die zunächst links der Mitte stand. 1993 aber habe Viktor Orban entdeckt, dass die politische Zukunft rechts der Mitte liege. Drei Wahlen hat er nach seiner ersten Ministerpräsidentschaft 1998 verloren und daraufhin erklärt, er müsse nur einmal gewinnen, dann aber deutlich, um einen "zentralen politischen Raum" zu bilden. 2010 erhielt er die Zwei-Drittel-Mehrheit, obwohl er nur ein Drittel der Wähler für sich verbuchen konnte. Wie Orban das geschafft, wie er Institutionen und Medien vereinnahmt hat und welchen Preis das Land dafür zahlt, schildert Lendvai in seinem Buch auf hoch interessante Weise.

Zu einem Wandel werde es nicht so bald kommen, schloss er mit pessimistischem Blick in die Zukunft. Diese beunruhigende Entwicklung in Ungarn, die Entfernung von der Demokratie, wie man sie vor Zeiten nicht für möglich gehalten hätte, "lassen einen mit offenem Mund zurück", sagte Zsuzsa Bánk am Ende dieses "Transflair"-Abends, der so in Moll ausklang.