Im Gespräch
Byzanz in Istanbul
28. 9. 2018 / Von Klaus Zeyringer
Angelika Overath und Christian Schüller bei Transflair zur Byzanz-Ausstellung auf der Schallaburg - Fakten und Fiktion: Reste des alten Konstantinopel sowie das neue Istanbul erstehen in Dokumentation, Roman und Gespräch

"Byzanz ist eine Ruine", heißt es in einem Roman; der Satz ist Figurenrede im Jahr 1949. In einem anderen, in unserer Gegenwart spielenden Roman steht: "Er war am richtigen Ort in dieser Stadt, in der die großen Gegensätze aufeinandertrafen: Orient und Okzident, die politisch-religiös zerrissenen Augenblicke der Moderne mit dem Mosaikengrund eines versunkenen Byzanz." Und in einem Dokumentarfilm sagt der Sprecher: "Durch Istanbul geht bis heute ein tiefer Riss." Byzanz und Istanbul, Vergangenheit und Gegenwart. Byzanz eine Ruine? In Worten nicht. Mit "c'est Byzance" verweist man im Französischen auf großen Luxus, auf gutes und schönes Funktionieren - es ist hier weit verbreitetes Kulturgut, der Ausspruch für sprichwörtlichen Reichtum stammt aus einem Stück des alten Wandertheaters.

Also welcher Mosaikengrund, welcher Riss? Und welches Faszinosum? Dazu hatten wir für Transflair eine Expertin und zwei Experten geladen, drei Ausgangspositionen, drei verschiedene Perspektiven, drei Möglichkeiten, mit Fakten und Fiktion zu verfahren. Das erste der obigen Zitate kommt aus dem 2015 erschienenen Roman Das Sieben-Türme-Viertel von Feridun Zaimoglu, der krankheitsbedingt absagen musste, aber mit seinen Worten auf dem Podium präsent war. Das ZDF zeigte im selben Jahr seinen Film Istanbul von vorne. Eine Recherche, in dem Zaimoglu sagt: "Die Hauptstadt zweier Imperien wandelt sich zur Metropole neuer Kulissen." Kurz davor, 2014, brachte der ORF Christian Schüllers Mein Istanbul; da heißt es: "Es entsteht eine osmanische Disneywelt."

Unglaublicher Kulturunterschied

Seit 1977 ist Christian Schüller beim ORF. Er hat aus Lateinamerika zur Zeit des Falklandkrieges berichtet, dann aus den USA und aus der UdSSR, als das Sowjetreich zusammenbrach. Das "Weltjournal" und andere Sendungen versorgt er mit seinen Dokumentationen, etwa mit Europas neue Fronten, einem gemeinsam mit Antonia Rados gestalteten Beitrag, der im Mai/Juni 2018 auf den Bildschirmen lief. 2010 publizierte Schüller das Buch Unter Außenseitern, Sozialreportagen aus dreißig Jahren, darunter die Geschichte einer italienischen Schneiderin, die ihr Dorf überzeugt, unzählige gestrandete Flüchtlinge aufzunehmen. 2011 bis 2015 leitete er das ORF-Büro in Istanbul und konstatierte zwischen der Stadt am Bosporus und Wien einen "unglaublichen Kulturunterschied". Dem ging er im Film Mein Istanbul auf den Grund, aus dem das dritte der obigen Eingangszitate stammt. Nach dem Konflikt um den Gezi-Park, nach den Ausschreitungen und der Unterdrückung durch die Staatsgewalt sprach Schüller mit einem Fischer, einem Taxifahrer, einem Friseur, einer Künstlerin, einem Sozialwissenschaftler, einer AKP-Aktivistin, mit Musikerinnen - wahrlich eine gesellschaftliche Bandbreite, die tiefe Einblicke in das Leben dieser so vielschichtigen Stadt gibt.

Das zweite der Anfangszitate steht im (kaum zehn Tage vor diesem Transflair erschienenen) Roman Ein Winter in Istanbul von Angelika Overath, der aus der heutigen Gegenwart weit in die Zeit zurückreicht, bis in die letzten Jahre von Byzanz. Die Autorin hat in Tübingen studiert und lebt nun seit langem im Engadin. Sie publiziert Reportagen, u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung, sie lehrt an der Schweizer Journalistenschule, sie ist Trägerin des renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preises. 2003 hat sie mit Navid Kermani und Robert Schindel das Buch Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring veröffentlicht. Um ethische Fragen sowie ums Reisen geht es in vielen ihrer Romane, 2014 in Sie dreht sich um: Eine betrogene Frau reist, geht in Museen, sieht dort in Bildern ein Selbstbildnis ... Ein Winter in Istanbul erzählt von Cla, einem Schweizer Gymnasiallehrer aus einem Engadiner Bergdorf, der sich für ein Recherche-Stipendium nach Istanbul begibt, während seine Verlobte Alva zuhause bleibt. In seinem "Cusanus-Projekt" will Cla Ereignisse der Vergangenheit verstehen, den Aufenthalt des Nikolaus von Kues im Winter 1437/38. "Es war die Endzeit der byzantinischen Welt"; 1453 wird Konstantinopel von den Osmanen unter Sultan Mehmed II. erobert, geplündert, geschunden.

Das heutige Istanbul der Verfolgungen nach dem Putschversuch gegen Erdogan ersteht bei Angelika Overath aus der Sicht eines Fremden - wie auch bei Christian Schüller und sogar in Feridun Zaimoglus Film ("Ich will diese Stadt verstehen; sie ist mir fremd"). Der Schweizer Cla gibt sich dem Ambiente hin; er verliebt sich in den Türken Baran, der in Berlin studiert hatte. Dann kommt Alva zu Besuch... Und Cla erzählt Baran vom alten Byzanz. Welches sind denn nun die Reste von Byzanz, sind sie irgend im heutigen Istanbul, im Flair der Stadt am Bosporus präsent, wo und wie ist der "Mosaikengrund des versunkenen Byzanz"?

Das Flair ist Istanbul nicht auszutreiben

Angelika Overath, deren Roman den Gründungsmythos von Byzanz und die Etymologie von "Bosporus" erklärt, spricht von den alten Mauern, den alten Kirchen - in Ein Winter in Istanbul spielt eine der ganz wesentlichen Episoden im wunderbaren Museum der restaurierten Mosaiken des ersten byzantinischen Palastes. "Für mich", sagt sie, "gehört zu Byzanz das, was nicht von Menschen gemacht ist: die Landschaft, der Bosporus, das Goldene Horn. Wenn man da heute hingeht, kann man schon denken: Über diese Wasserstraßen sind sie damals gefahren mit den Galeeren." Und das kosmopolitische Flair, fügt Christian Schüller hinzu und betont: "das Flair, das Istanbul heute noch hat - man kann es der Stadt nicht austreiben." Man spüre, wieviel Geschichte eingeflossen sei; so zeigten sich heutzutage junge, aus Anatolien zugewanderte Türken überrascht, am Nabel eines islamischen Reiches, im "europäischen" Teil der Stadt überall Kirchenglocken zu hören. "Die Geschichte lässt sich umdeuten, aber nicht zum Verschwinden bringen."

Von Byzanz spreche die offizielle Türkei nicht, sagt Schüller, die Christen nenne man "Römer". Immerhin habe es unter Erdogan eine Reihe von Maßnahmen gegeben, die der griechisch-orthodoxen Kirche Güter rückerstatteten. Das Patriarchat indes, das das Erbe des großartigen byzantinischen Reiches darstellen würde, sei heutzutage "eine business-orientierte Firma", die etwa einen alten Friedhof als Bauland verkauft habe. Das zeige, wie sehr die Tradition gebrochen sei. Bei den Konzils-Treffen stehe keineswegs der Patriarch von Konstantinopel im Zentrum, sondern der russische, der mit vier Leibwächtern in die Kirche eingerückt sei. Letzten Karfreitag, wirft Angelika Overath ein, haben sie in das volle Patriarchat und die Gesänge schon ergriffen - "aber in die Tiefen der Grundstücksspekulationen bin ich nicht eingedrungen".

Keine wirtschaftliche Zukunft

Das ungemein kosmopolitische Flair der Stadt bildet sowohl in den Romanen von Overath und Zaimoglu als auch in Schüllers Film den Hintergrund, ja es steht oft im Vordergrund. Es habe sich allerdings insofern verändert, sagt Christian Schüller, als die Auswanderung junger gebildeter Einheimischer zunehme. Bald nach seiner Ankunft in der Stadt habe er einen Bericht für den ORF gemacht, wie junge Türken nach ihrer Ausbildung in Europa wieder zurückgekommen seien, denn da, in Istanbul, sei das richtige Leben, da sei die wirtschaftliche Zukunft. Bei seiner Abreise vier Jahre später habe sich das Phänomen umgekehrt gehabt, nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch aus Sorge um das immer stärker religiös bestimmte Ausbildungssystem.

Ja, sagt Angelika Overath, "das Goethe-Institut hat Hochkonjunktur, die jungen Leute wollen Deutsch lernen, um nach Deutschland oder Österreich zu gehen. Die Sprache ist die Utopie der Freiheit." Darauf Schüller: Die "Bildung für alle", die Atatürk in den zwanziger Jahren mittels "legendärer Bildungskreuzzüge" habe durchsetzen wollen, sei dann von seinen Nachfolgern nicht mehr gefördert worden. Seine ambivalente Politik des Kemalismus - weltoffen und nationalistisch - sei zunehmend zu einer provinziellen Bewegung geworden. Dies sei einer der Gründe für die ersten Erfolge von Erdogan, den anfangs sogar viele liberale Menschen im Vergleich zur kemalistischen Enge als weltoffen verstanden hätten.

Westlich mit Atatürk

Mit Atatürk, sagt Angelika Overath, habe sich die Türkei am französischen Westen orientiert, wie die Istiklal-Straße als "Grande Rue de Péra" so deutlich zeige. Damals eröffneten viele Franzosen, Griechen und Italiener große Kaufhäuser. Die Spießer nach Atatürk hätten die Tore gesellschaftlich wieder verschlossen und etwa Frauen aus der Bildung gedrängt, zurück in die patriarchalische Gesellschaft. Erdogan hingegen habe die Frauen mit den Kopftüchern unterstützt und sie "ins politische Leben geholt". Sie "gehen in die Viertel der Armen, die von der westlich orientierten Schickeria übersehen worden sind". Die AKP habe die Frauen animiert, sagt Schüller, politische Aktivistinnen zu werden - er habe einmal in einer winzigen Wohnung zwanzig Frauen bei so einer Art "Politik-Tupperparty" erlebt.

Das Publikum müsse nun mit seinen Fragen eingreifen, sorgt sich Christian Schüller, "denn wir kommen ja beide so rüber, als würden wir Erdogan-Verteidiger sein - was wir nicht sind." Es sei ihm bei der Ausstellung auf der Schallburg durch den Kopf gegangen: "Wie schwierig es für uns Europäer ist, uns von der anderen Seite zu sehen."
Umgekehrt kenne jedes türkische Kind den Satz "Wir waren kurz vor Wien", das werde jedoch nicht mit einem konkreten Land in Verbindung gebracht; es bedeute vielmehr: Wir waren ein Weltreich.
So sei auch 1453 präsent, als Befreiung vom byzantinischen Joch - was es ja, historisch genau betrachtet, für die Bevölkerung Anatoliens tatsächlich bedeutet habe. Mehmet II., sagt Overath, habe nach der Eroberung von Byzanz Religionsfreiheit gegeben.

Es folgt nun auf dem Transflair-Podium eine Antwort der Literatur. Wie hört sich so eine Stimmung im Roman an, wie wird so ein Ambiente berichtet, wie geht das in der Fiktion der Handlung? Angelika Overath liest drei Passagen aus Ein Winter in Istanbul, zum Teil ein Bildungsroman, in dem sich Gebildete vor dem Hintergrund des Ambientes der Stadt unterhalten. Christian Schüller betont, die Schauplätze seien viel besser beschrieben, als er sie selbst erlebt habe. "Das Raffinierte an der Geschichte ist ja, dass diese Liebesgeschichte ein Abenteuer für die beiden Männer ist" - der Schweizer wisse zuvor nicht, dass er von einem Mann angezogen werden könne, und das mache ihn so offen gegenüber der anderen Kultur. "So fließen das Beobachten und das Sich-Selbst-Beobachten ineinander."

So geht es uns auch, wenn wir in Istanbul sind, sagt Angelika Overath am Ende der Lesung, "wir haben dieses fragmentierte Byzanz. Wir können phantasieren; das hat eine Erlebnisqualität für uns." An einer Stelle des Romans sagt Cla zu Alva: "Unser Scheitern war kein Zufall, kein Versehen. Wir waren Byzanz."