Im Gespräch
"Fische im Wasser unserer Einbildungen"
14. 4. 2018 / Von Klaus Zeyringer
Norbert Gstrein und Robert Pfaller bei der Transflair-Matinee im Festival Literatur und Wein über Wortwahl, Sprachkunst und Philosophie unter den aktuellen Verhältnissen

"Denn nachdem sie alles in Gang gesetzt hatte, begann es für sie mit der richtigen Wortwahl", berichtet der Ich-Erzähler über seine Ehefrau, die Schriftstellerin Natascha, in Norbert Gstreins Roman Die kommenden Jahre. Und in Robert Pfallers philosophisch-gesellschaftskritischem Buch Erwachsenensprache heißt es, dass "Sprechen immer eine gewisse Gespaltenheit aufweist" - und zwar so, dass "unser Verhältnis zu unseren Worten unser Sprechen charakterisiert".

Wir leben in einer ebenso komplexen wie in Phrasen von Medien und Populisten, die nichts und alles sagen, simplen Welt. Gegen Vereinfachungen und Infantilisierungen aller Art stehen Sprach- und Denkkunst. Zwei Meister des Wortes, mit unterschiedlichem Zugang und verschiedenem Ausdruck, sitzen bei dieser Matinee, der 63. Folge der Serie Transflair, auf dem Podium; sie nehmen das gebannte Publikum im randvollen Saal in ihre analytischen Gedanken und auf espritreiche Erzählwege mit. Dabei lauten grundsätzliche Fragen: Was ist, was kann Philosophie, was vermag Literatur unter heutigen politischen und kulturellen Zuständen? Wie spiegelt Sprache gesellschaftliches Bewusstsein, wie wirkt Literatur als Gesellschaftsspiegel?

Mit Fiktion, mit Distanz und Nähe zu Lebenswelten befasst sich Norbert Gstrein, seit er 1988 seine erste Erzählung Einer publiziert hat - implizit in all seinen Texten, die auch immer von Unsicherheiten des Wahrnehmens, Erinnerns, Wiedergebens handeln; explizit im großen Essay Wem gehört eine Geschichte? (2004): Literatur müsse "eine andere Nähe" zu den Vorgängen suchen. Im Roman Das Handwerk des Tötens führt Gstrein vor Augen, welche Bedeutung Distanz und Nähe und die Perspektive haben, wenn vom Krieg berichtet wird, und wie unsicher dabei jedes Terrain erscheint. Gegen die Vermittlung der Medien gelte es, so Gstrein, "zu einem anderen Umgang mit den Bildern zu gelangen, am Ende auch zu einer anderen Nähe, die aber nur durch fortwährende Distanzierung erreicht werden" könne.

In Schwebe, Ausweg unklar

Dies gilt auch für Norbert Gstreins jüngstes Werk Die kommenden Jahre und die hier angesprochenen Themen: Beziehungen und Wandel, Fremdheit und Flüchtlinge, Mitleid und Auseinandersetzungen. Der Ich-Erzähler ist Richard, ein aus Tirol stammender Gletscherforscher an der Universität Hamburg, zu Beginn des Romans bei einer Tagung in New York, stets scheinbar ein Fremder. Seine Ehefrau Natascha hat die aus Syrien geflüchtete Familie Farhi im geerbten Sommerhaus am See aufgenommen. Wie vielen Figuren bei Gstrein ist Richard sein Leben in Schwebe geraten, ein Ausweg unklar; auch er muss hinnehmen, dass Gewissheit und Wahrheit kaum zu erlangen sind. So läuft der Roman, die dichte Erzählung hintergründig vorantreibend, in feinen Zügen auf die Konfrontation von Gewissheitsmenschen und Existenzskeptikern hinaus. Und auch diesmal lohnt es sich Gstreins Wortwahl genau zu betrachten, etwa den ersten Satz, der mit einer politischen Anspielung in Zukunft und Möglichkeit führt, während die Erzählung aus der Vergangenheit kommt: "In einem knappen halben Jahr sollte der neue amerikanische Präsident gewählt werden, und die Stimmung, die auf der Tagung in New York herrschte, brachte am besten die Tatsache zum Ausdruck, dass von einheimischen Teilnehmern immer wieder der Satz zu hören war, wenn das Schlimmste einträte, würden sie nach Kanada auswandern."

Auf dasselbe politische Ereignis bezieht sich Robert Pfallers erster Satz in Erwachsenensprache: "Ein Erlebnis im Flugzeug auf dem Weg in die USA (noch vor den Präsidentschaftswahlen im November 2016) bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Am Beispiel einer Warnung vor sogenannter 'adult language' versinnbildlicht es eine gesellschaftliche Entwicklung, in deren Verlauf Erwachsenheit nicht mehr selbstverständlich von erwachsenen Menschen erwartet werden darf." Vor Michael Hanekes Film Amour war auf dem Bildschirm das Insert "Achtung Erwachsenensprache" erschienen.

Verbot und Verzicht statt soziale Ideale

Die Wortwahl steht bei Pfallers jüngstem Buch im Titel. Mit einigen seiner Werke hat der Professor für Philosophie und Kulturtheorie an der Kunstuniversität Linz, einen heute seltenen Erfolg erreicht: philosophische Bestseller. Wofür sich zu leben lohnt (2011) hat vier Jahre nach der Publikation die 6. Auflage erreicht. Hier geht Pfaller von der Beobachtung aus, die reichsten Bevölkerungen der Welt hätten es verlernt, die Frage zu stellen, wofür es sich zu leben lohne. Die klug gewitzte, äußerst bedenkenswerte Analyse zeigt, dass die Öffentlichkeit zu einer Sphäre von Verboten und Verzicht geworden ist und uns die sozialen Ideale abhandengekommen sind.

In Erwachsenensprache konstatiert Robert Pfaller eine Infantilisierung und Entpolitisierung bei gleichzeitiger Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Ob die Empörung der Bevölkerungsgruppen, die aufgrund neoliberaler Politik verarmen, einen Ausdruck finden könne, werde eine Frage der Wortwahl sein: Ob sich Menschen als Erwachsene äußern. "Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Menschen mit der größten Selbstverständlichkeit in Armut und Aussichtslosigkeit getrieben werden, und in der man zugleich Erwachsene vor Erwachsenensprache warnt. Das eine hängt offenkundig mit dem anderen zusammen: Denn es sind dieselben Mächte, die das eine und das andere vorantreiben." Dies erläutert Pfaller anhand vieler Beispiele in verschiedenen Bereichen: Sicherheitsreligiöse Politik, Kultur des Opferseins, Bologna-Reform an den Universitäten, Gendern, Rauchverbot... Man müsse, lautet ein Fazit, die Politiken des zarten Sprechens attackieren, "um die realen Brutalitäten dieser hauchzarten Bedeckung zu berauben, die sie offensichtlich nötig haben". Das "Zartsprechen" zerstöre den öffentlichen Raum. Und es konzentriere die Aufmerksamkeit der Leute auf ihre Befindlichkeiten, lenke somit völlig davon ab sich zu fragen, welche Interessen sie eigentlich haben und welche es solidarisch mit Anderen geben könne.

Das erzeuge in ihm, sagt Norbert Gstrein, das Bild einer neoliberalen Gesellschaft, die die Individuen gängelt und von ihnen verlangt, sich selbst auch noch zu gängeln: Als schicke jeder einen Stellvertreter vor sich her, an kurzer Leine, einen kleinen Roboterstellvertreter, der es übernimmt, sich korrekt zu äußern und politisch nicht aufzufallen. Ja, sagt Robert Pfaller, man schicke einen korrekten Stellvertreter von sich vor, der auch immer über einen anderen Stellvertreter spreche: "Jeder hat seinen Inuit, mit dem er den Anderen zum Schweigen bringt." Ein Pfallersches Fazit: "Wir lassen uns wie die Kinder behandeln."

In Gstreins Roman reflektiert der Ich-Erzähler Richard: "Wie sehr ich es mochte, ein Fremder zu sein." Seine Frau Natascha hingegen genießt es, sich beim Helfen zusehen zu lassen; in einer TV-Doku spielt sie das Mitleid als Egotheater vor. Mit "einigem schönen Erschrecken", sagt Norbert Gstrein, habe er festgestellt, wie manche seiner Figuren "dem Werk von Robert Pfaller entsprungen sein könnten, das ich erst kürzlich zu lesen begonnen habe."

Was also vermögen Philosophie und Sprachkunst unter den heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen?
Das, was die Menschen in Aufregung versetzt, sind niemals die Tatsachen, sondern immer ihre Einbildungen über die Tatsachen.
Auf den ersten Blick sehe es so aus, sagt Pfaller auf dem Transflair-Podium, als könne die Philosophie sehr wenig direkten Einfluss auf Wirklichkeiten ausüben. "Der Gegenstand, an dem wir uns abarbeiten, sind eher die Einbildungen der Menschen." Das sei freilich gar nicht so wenig, wenn man dem Stoiker Epiktet folge: "Das, was die Menschen in Aufregung versetzt, sind niemals die Tatsachen, sondern immer ihre Einbildungen über die Tatsachen." Wenn es also gelinge, auf die Einbildungen Einfluss zu nehmen, sei das eigentlich schon recht viel. Als Beispiel zitiert Pfaller die Rede Das ist Wasser von David Foster Wallace, der meinte, wir seien wie Fische im Wasser unserer Einbildungen; man vermöge sich allerdings Gegenvorstellungen zu fabrizieren. Das sei ja das Heilsame an Fiktionen und Literatur, denn man müsse den Anderen nicht als Bedrohung erleben. Und gerade in der heutigen Situation erleben wir - als Effekt neoliberaler Politik - den Anderen ständig als eine Bedrohung, als Feind unseres Glücks. Da wäre die Gegenvorstellung hilfreich, dass das Glück immer etwas sei, das nur solidarisch genossen werden könne.

In der Fiktion an anderen Leben teilhaben

Die Literatur bewirke ja, dass wir eine Vorstellung vom Anderen bekommen, eine "Nähe-Vorstellung", sagt Norbert Gstrein. "Wir sitzen im eigenen Ich verfangen, und in den Fiktionen sehen wir, es gibt Andere, die uns in vielem ähneln und in manchem nicht. Wir müssen mit diesen Anderen umgehen und sie aushalten. In den Fiktionen haben wir sogar die Möglichkeit, ersatzweise an deren Leben teilzuhaben, sodass Fiktionen versuchte, am Ende vergebliche Revolten sind gegen die Endlichkeit des Lebens."

Die Philosophie und die Literatur hätten beide "große Mäuler und große Mägen und versuchen sich gegenseitig zu fressen und zu verdauen", sagt Gstrein. Als Schriftsteller habe er die Möglichkeit, sich einen Geistesmenschen auszumalen, ihm Robert Pfallersche Züge zu geben und sich ungeniert an der Pfallerschen Philosophie zu bedienen. Andererseits könne Robert Pfaller dann über diesen Roman etwas Reflektiertes schreiben. Der Unterschied liege in der Einschätzung der Kategorien: Der Philosophie gehe es um Wahrheit, der Literatur um Wahrhaftigkeit; Philosophie spreche eher explizit über Moral, in der Literatur sei man in der Regel besser beraten, wenn die Moral eher etwas Implizites sei. Das sehe er auch so, sagt Pfaller, aber gute Philosophen würden nicht ohne Implizites auskommen und erst dadurch so recht faszinieren, dass sie ein Mehr bieten und nicht nur das, was gesagt wird.

Die jüngsten Werke der beiden Transflair-Gäste bieten dafür gute Beispiele. In Pfallers Erwachsenensprache steht das Kapitel "Psychoanalyse der Moralsysteme"; in Gstreins Die kommenden Jahre bleiben die Moralsysteme im Hintergrund, in Schwebe, und sind auch in Bildern ausgedrückt - ein wunderbares, wiederkehrendes zeigt Fanny, die halbwüchsige Tochter der Schriftstellerin und des Gletscherforschers, auf der Schaukel beim Sommerhaus.

Was nun die Nähe betreffe, sagt Norbert Gstrein, "halten wir es für eine zu selbstverständliche Qualität von Literatur, wenn von Empathie, von Einfühlsamkeit gesprochen wird. Das sind natürlich Kategorien, die eine große Rolle spielen, aber bei bestimmten Themen gibt es Überschreitungsverbote, dass nicht Empathie Kitsch wird. Wir müssen uns nicht in jemanden einfühlen, der unter schrecklichen Umständen über das Meer flieht. Wir berichten darüber; und für mich gilt: Wir haben eine respektvolle Haltung dazu. Die einfühlsamen Geschichten schreiben die Flüchtenden selbst."