Im Gespräch
"Damit setzt man sich die Maske auf" - Erinnerungen, Abgründe
8.10.2020 / Von Klaus Zeyringer
Norbert Gstrein und Josef Haslinger bei Transflair

Endlich wieder Lesungen, endlich wieder Gespräche, sind sich Veranstalter, Publikum und Autoren einig. Im Saal trägt man Maske, mittlerweile ein gewohnter Anblick. Man hat sich angemeldet und eingetragen, man sitzt auf den reservierten Plätzen, man hält Abstand. Es ist die 72. Folge der Serie Transflair. Zu Gast, ohne Maske auf dem Podium, sind Norbert Gstrein und Josef Haslinger, deren Werke zwar voneinander literarisch Abstand halten, die aber - wie auch der Moderator - eine ähnliche Sozialisation hinter sich haben: ländlich-dörflich und im Internat.

Norbert Gstrein hat 1988 ein fulminantes Debüt vorgelegt, die Erzählung Einer spielt in einem Bergdorf im hintersten Tirol. Es geht um einen Außenseiter in der ländlichen Gesellschaft - und oft zeigt Gstreins Werk die Hauptfiguren "draußen", im Abseits. In diesem, seinem ersten Buch steht: "Erinnerungen. Aber was erklären sie?" Eine Rolle spielen hier, wie in Haslingers zuletzt erschienenen Band, das Schulheim und die Züchtigung. 2019 legte Gstrein den Roman Als ich jung war vor, auch der Ich-Erzähler Franz war im Internat. Er bemüht sein Gedächtnis, um zwei bestimmende Episoden seiner Vergangenheit und deren Auswirkungen zu erkunden. Im Schlossrestaurant seines Vaters in Tirol fotografiert er bei Hochzeiten, einer dieser vorgeblich schönsten Tage im Leben endet mit dem Tod der Braut, die zerschmettert im Abgrund liegt. Zuvor gab es eine andere Hochzeit, bei der Franz nahe an diesem Abgrund ein Mädchen geküsst hat. Er flüchtet in die USA, aus zunächst unklaren Gründen. In Wyoming arbeitet er als Skilehrer, nach dreizehn Jahren kehrt er zurück. Es ist ein sukzessive dichter werdendes Netz von Geschichten und Ahnungen von Abgründen, es stellen sich immer die Fragen: Was war gewesen, was können wir wissen und wie wirkt ein Moment der Vergangenheit ins ganze Leben hinein?

Wie sich ein Moment der frühen Jahre auf die gesamte Existenz auswirkt, das erzählt Josef Haslingers Band Mein Fall, 2019 publiziert. In St. Pölten hat er 1984 bei einer Germanistiktagung Die plötzlichen Geschenke des Himmels vorgelesen; im Publikum standen bald zwei, drei Männer im Trachtenanzug auf und verließen empört den Saal, während in der ersten Reihe Klosterschwestern saßen, die dann über das Gehörte reden wollten. Die Erzählung handelt von schwerem sexuellem Missbrauch durch einen Pater in einem Klosterinternat. Sie beruht, wie wir nun aus Mein Fall wissen, auf schmerzhaft eigenem Erleben. Auf autobiographische Hintergründe stützen sich auch andere Werke Haslingers, im Bestseller Opernball hat er einer Figur einen Teil seiner Biographie gegeben, in Phi Phi Island schildert er, wie er und seine Familie den Tsunami in Thailand mit größter Not gerade noch überstanden haben.

Mein Fall ist dezidiert nicht als fiktionale Literatur erzählt, das Buch schildert vielmehr, wie Josef Haslinger als Sängerknabe im Stiftsinternat Zwettl missbraucht wurde, wie er sich auf die Recherche nach den Erinnerungen und in einer Opferschutz-Odyssee zur "Klasnic-Kommission" begibt. Zugleich stellt er sich die Frage, warum er so lange geschwiegen habe. Für Josef Haslinger sei "die Last der Realität viel größer als in meinen Fiktionalisierungen", sagt Nobert Gstrein. "Bei mir war es nicht anders, ich habe mit Fiktionalisierungen begonnen", antwortet Haslinger. Damit setze man sich eine Maske auf, sagt Gstrein.

Einem der Täter begegnet

In seinem ersten Buch Der Konviktskaktus, sagt Haslinger, spiele die Titelgeschichte in diesem Klosterinternat, an das Thema Missbrauch habe er sich da allerdings noch gar nicht herangewagt. Dann sei er aber einem der Täter, dem Pater Gottfried, wieder begegnet, "und das hat mich auf eine Weise verstört, dass das Thema wieder da war. Ich habe ja jahrzehntelang niemandem davon erzählt. Ich wollte mich davon nicht mehr tangieren lassen." Die Begegnung mit dem Pater habe bewirkt, dass er sich mit dieser Vergangenheit beschäftigt und Die plötzlichen Geschenke des Himmels geschrieben habe. Damals hat er bei einer Familienfeier erstmals darüber gesprochen, zuvor hatten die Eltern keinen Verdacht geschöpft: "Meine Mutter hat es zuerst gar nicht glauben wollen und hat gemeint, ich erzähle eine Fiction." Erst als er zufällig erfahren habe, dass Pater Gottfried und die anderen Täter gestorben waren, sei es eine Befreiung gewesen, um Klartext zu sprechen. "Das Fiktionale war das Ventil, das mir behilflich war."

In seinem Roman, sagt Gstrein, formuliere eine Figur das ästhetische Programm, dass wir manchmal Geschichten erzählen, um andere nicht zu erzählen. Manche Opfererfahrungen, vielleicht auch Tätererfahrungen, seien so stark, dass man immer um ein Zentrum des Schweigens herum erzähle.
"Wenn ich in meine Kindheit zurückdenke und das für mich heute interpretieren will, dann merke ich, dass ich damals in vielen Situationen, im Elternhaus und im Internat, versucht habe, als Ich nicht anwesend zu sein, um gewisse Erfahrungen als dieses Ich nicht machen zu müssen. Und dass Literatur für mich unter anderem eine Möglichkeit war, ein Ich überhaupt erst zu konstruieren."
In den letzten drei Romanen (In der freien Welt, 2016; Die kommenden Jahre, 2018, und Als ich jung war) stammen Stellen aus dem Autobiographischen, sie spielen in Tirol; anders jene Passagen in den USA. "Und manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich die amerikanischen Episoden eher erlebt."

Ein Grund für das Verschweigen, sagt Norbert Gstrein, sei die Scham. "Manchmal ist einem etwas so peinlich, dass man herumhampelt. Ich habe meine ganze Kindheit mit Herumhampeln verbracht, um nicht den Ernst ernstnehmen zu müssen." "Was ist herumhampeln?", fragt Josef Haslinger. "Die Flucht ins Unernste. Ich habe mich aus allem herausgeblödelt." Die Scham-Theorie stimmt allerdings für die Lesung der Plötzlichen Geschenke des Himmels 1984 nicht. Für einen Teil des Publikums war Haslingers Auftritt damals geradezu eine Schamlosigkeit. "Ein Tabubruch", sagt Haslinger. "Über diese Dinge spricht man nicht - das war Konsens. Man darf doch diese Priester nicht in den Schmutz ziehen."

Auf Einer und die Internatserfahrung angesprochen, die in der Erzählung im Undeutlichen gelassen ist, sagt Gstrein: "Da versuche ich meinen Fall von mir wegzuhalten." Im Roman, den er gerade beendet habe (erscheint im Frühjahr 2021 bei Hanser), berichte ein Ich, ein berühmter Schauspieler von seiner schweren Erkrankung und sage, er würde nie jemand anderem davon erzählen. Denn da würde er als öffentliche Person ausschließlich darauf reduziert, wäre er auf einmal nur mehr der Mensch mit der Krebsdiagnose. "Auf diese Weise versuchen die Ichs, die ich konstruiere, ihren Fall von sich wegzuhalten."

Bilder spielen wesentliche Rolle

Sowohl in den Werken von Josef Haslinger als auch in jenen von Norbert Gstrein spielen Bilder eine wesentliche Rolle. Auf dem Cover von Mein Fall ist das Schwarz-Weiß-Foto eines braven, lieben Elfjährigen zu sehen. Ja, sagt Haslinger, da sei er angepasst gewesen und habe alles richtig machen wollen. "Und gerade in dieser Phase der extremen Anpassung an dieses mir in vielem völlig neue System einer Klostererziehung waren diese Missbrauchsfälle." Die Fotos von zwei Tätern habe er zur Klasnic-Kommission mitgenommen, eines hatte ihm Pater Gottfried in den Ferien in einem Brief geschickt.

Der Umschlag von Als ich jung war zeigt das Farbfoto einer vor der Prärie laufenden jungen Frau, dreimal hintereinander, als sei es eine kleine Serie. In Gstreins Romanen illustrieren die Bilder Verhältnisse. "Man hat seine Privatmythen beim Schreiben", sagt er, "und in manchen Phasen meine man, die ganze Welt sei dazu da, dass sie unbedingt in den Roman hineinmuss." Auf dieses Foto sei er auf einer Reise in den amerikanischen Westen gestoßen, in einem Museum in Montana sei er davor gestanden und habe gedacht: "Darüber schreibst du eigentlich, darüber schreibst du auch." Noch dazu habe das Foto der Vater des Mädchens gemacht, ein "native american" - laut New York Times dürfe man ja wieder "Indianer" sagen -, und aus Triviallektüre wisse man um deren besonderes Verhältnis zu Fotos, denn da werde einem die Seele genommen. Vier Monate brauchte Norbert Gstrein, um das Foto zu bekommen.

Aus seinem Roman liest er dann die Passage von einer Hochzeit eines Schriftstellers, an deren Rand die Geschichte des Kusses am Abgrund sich zumindest als Anflug von Kindesmissbrauch herausstellt. "Sie sehen, das ist ein sehr unheimlicher Erzähler", sagt er, "er erzählt sich selbst haarscharf an einen Verdacht heran, den man gegen ihn erheben muss."

Jugendkultur statt Gregorianischer Choral

Amerika ist für Gstrein nicht nur in diesem Roman Fluchtort und Frontier. "Das ist wahrscheinlich eine jetzt fruchtbar werdende Kindheitsfantasie. Und die früheste Vorstellung von Fluchtorten habe ich in der amerikanischen Literatur gefunden." Josef Haslinger hat ebenfalls über Amerika geschrieben, er hat auch in den USA gelebt. "Mit dem Eintritt in die Pop- und Rockkultur war Amerika ein mythischer Ort geworden, verbunden mit dem Kampf um Freiheit", sagt er, "nachdem ich mich mit 15 Jahren der Jugendkultur zugewendet und dem Gregorianischen Choral abgeschworen hatte." Er sei 1989 in der Folge seines Essaybuches Politik der Gefühle in die USA eingeladen worden und "wie ein Verrückter durchs Land gefahren". "In meinem nächsten Roman", sagt Norbert Gstrein, "fliegt der Erzähler jedes Jahr nach Amerika, fährt dort ein paar tausend Kilometer mit dem Auto und kann niemandem genau erklären warum."

Schließlich kommen wir auf Mein Fall zurück. In einem Interview hatte Josef Haslinger erklärt, es brauche "eine andere Stärke" für dieses Buch als für ein fiktionales Werk. "Weil man fünfzig Jahre und einen langen Anlauf braucht", sagt er auf dem Transflair-Podium und lacht. Romanschreiben sei ein anderes Terrain, "man muss sich ins Fiktionale begeben, und ich habe Lust, es so darzustellen, als sei es nicht fiktional." "Meine Forderungen an Romane sind auch, dass sie so geschrieben sind, dass ich sie für real halten kann", sagt Gstrein. "Die Fiktionalität kann alles in sich aufnehmen", sagt Haslinger, "aber bei diesem Buch habe ich von Anfang an keinen Zweifel gelassen, das ist ein Stück Autobiographie und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dieser Gattung und der Geschichtlichkeit: Was weiß man denn mit Sicherheit und was muss, kann man rekonstruieren? Es geht darum, wie sich die Dinge gewandelt haben und mit welcher Lebenslüge man sich eingerichtet hat." Der Prozess der Entstehung ist in das Buch mit hineinverarbeitet.

Ob Erzählen eine heilende Wirkung haben könne? "Es bekommen diese Vorfälle, die in einem sitzen und mit denen man nicht umzugehen weiß, eine Sprache und werden so aussprechbare Realität", hat Josef Haslinger im Deutschlandfunk erklärt. "Ja", sagt er nun, "es wird damit ein abgemachter Teil der eigenen Geschichte, es darf wieder in die Vergangenheit zurücksinken" - und liest Passagen aus dem Buch, mit den Abschlussworten: "gegen die Geister der Vergangenheit ins Gefecht zu ziehen".